„Clockwork Orange – Im Räderwerk der Gewalt“: Glamourös, charismatisch und ein Freiheitsmanifest (2024)

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Von: Marc Hairapetian

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„Clockwork Orange – Im Räderwerk der Gewalt“: Glamourös, charismatisch und ein Freiheitsmanifest (1)

Sehenswerte Arte-Doku über den Kult-Roman von Anthony Burgess, bei der sogar Campino von Die Toten Hosen interviewt wird, Stanley Kubrick aber zu kurz kommt.

Frankfurt – „Das Buch hat den Rhythmus unseres Lebens eingefangen“, sagt Andrew Loog Oldham, der inzwischen 79-Jährige, einstige erste Manager der Rolling Stones in „Clockwork Orange – Im Räderwerk der Gewalt“. Deswegen lag es nahe, dass die anno 2023 nach 61 Jahren immer noch aktive Rockband zuerst für eine Verfilmung von Anthony Burgess‘ Kult-Buch „A Clockwork Orange“ („Uhrwerk Orange“) vorgesehen war. 1966 erwarb Warner Bros. die Rechte an dem Roman, der vier Jahre zuvor erstveröffentlicht wurde – im Jahr übrigens, indem sich The Rolling Stones gründeten. Doch aus dem Film unter der Regie des italienischen Regisseurs Tinto Brass, der später seinen Namen aus den Credits des vom Erotik-Magazin Penthouse produzierten Skandalerfolgs „Caligula -Aufstieg und Fall eines Tyrannen“ (1979) zurückzog, in dem Malcolm McDowell, der Alex DeLarge aus Stanley Kubricks Kinoversion von 1971, die Titelrolle übernahm, wurde nichts. Über die Hintergründe, warum das Projekt mit Brass und den Stones scheiterte, erfährt man leider nichts in der 55-minütigen Doku von Benoît Felici und Elisa Mantin. Und auch über Stanley Kubricks kongeniale Verfilmung der Dystopie wird nur wenig berichtet.

Dennoch ist die französische Arte-Produktion sehenswert, nimmt sie sich doch vor allem dem Leben des „Clockwork Orange“-Vaters John Anthony Burgess Wilson (25. Februar 1917 in Harpurhey, Manchester - 22. November 1993) und dessen erst 2019 von Forschern entdeckter essayistischer Fortsetzung „The Clockwork Condition“ an. Die 1972/73 geschriebene Rechtfertigung seines Romans und Kubricks wohl noch größeren Meisterwerks, dem bei allem künstlerischen und kommerziellen Erfolg kurzsichtige Kritiker:innen wie Pauline Kael „Gewaltverherrlichung“ und „faschistische Tendenzen“ vorgeworfen hatten, schildert „die Natur des Uhrwerks mit seinem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse“. Die philosophische Reflexion warnt nochmals eindringlich vor einer staatlichen Konditionierung von Straftätern, die anhand der Ludovico-Therapie aus dem in „Clockwork Orange“ erst 15-Jahre alten Raubmörder und Vergewaltiger Alex einen „guten“ Menschen machen soll. Faktisch ist diese Technik aber eine Art chemischer Kastration, die ihm alle Gewalt- und Sexgelüste mittels Brechreiz genauso austreibt wie seine Liebe zur Musik von Beethoven (im Roman ist es vor allem dessen 5. Symphonie, bei Kubrick „die göttliche 9.“).

Arte zeigt Doku „Clockwork Orange – Im Räderwerk der Gewalt“

Zu Wort kommen unter anderen neben Oldham Schriftsteller Will Self, „Clockwork Orange“-Theaterregisseurin Alexandra Spencer-Jones und Burgess-Biograf Andrew Boswell, der den aus der Ich-Perspektive geschilderten Roman mit 15 zuerst las. Letztgenannter berichtet, dass der aus der ärmeren Mittelschicht Manchesters stammende Burgess überzeugter Katholik und Musikliebhaber war, der im Pub seines Vaters zu Pianoklängen aufwuchs, nachdem die Spanische Grippe kurz nach seiner Geburt seine Mutter und seine Schwester dahingerafft hatte.

Er bezeichnete die Jugend nach dem Zweiten Weltkrieg als „renitent, ungehobelt, gewalttätig und destruktiv: Da sie ihre Energie nicht konstruktiv nutzen konnte, wendete sie sie destruktiv an.“ Burgess setzte ihr mit „Clockwork Orange“ ein Denkmal. „Dabei verband er die britische Bewegung der Teddy Boys mit den russischen Stilyagi, stylisch gewandeten sowjetischen Jugendlichen“, wie eine russisch-armenische Übersetzerin erläutert. Zudem legte er Alex und seiner Bande, den Droogs („Freunden“) russische Worte in den Mund, die sie mit dem co*ckney-Slang ihrer Herkunft mixten. Das unterstreicht auch die Internationalität seines Werkes, das sich in dieser Hinsicht über den damals den gesamten Erdball bedrohenden Kalten Krieg hinwegsetzte.

„Clockwork Orange – Im Räderwerk der Gewalt“: Glamourös, charismatisch und ein Freiheitsmanifest (2)

Für den serbischen Zeichner Enki Bilal, der „Clockwork Orange“ in der Doku in einer comicartigen Bilderserie nacherzählt, folgt Alex, Protagonist wie Antagonist in Personalunion, der „Logik des Künstlerlehrlings mit sich selbst als Hauptdarsteller“. Auch Burgess war davon überzeugt, dass Alex, wenn er erwachsen ist, „Künstler wird, was vor allem an seiner Liebe zu Beethoven liegt“. Diese würde laut Campino, Sänger der Toten Hosen, in Buch wie Film ganz anders thematisiert, „als das, was uns unsere Eltern über klassische Musik erzählt haben“. Man identifiziere sich mit dem charmanten Antihelden, „weil wir alle das Böse in uns tragen würden“. Er selbst brachte mit seiner Punk-Combo 1988 den Song „Hier kommt Alex“ heraus und gab dem damals 20-jährigen Verfasser dieser Zeilen im Capitol Hannover ein Interview, welches in dessen Kulturmagazin Spirit – Ein Lächeln im Sturm unter dem Titel „Das Privileg der Unerleuchteten“ publiziert wurde, da Campino damals allen Ernstes behauptete, mit dem Album „Ein kleines bisschen Horrorschau“ „Clockwork Orange“ der breiten Masse bekannter machen zu wollen. Dabei waren Roman wie auch Film bereits Welterfolge …

Für Spencer-Jones, die zugleich „Mitleid mit Alex, aber auch Angst“ vor ihm hat, ist „Clockwork Orange“ immer noch „extrem politisch“. Buch und Film seien von einigen Leuten missverstanden worden, die sich nur auf den ersten Teil beziehen, wo Alex und seine Droogs „tollschockend“ („auf den Kopf schlagend“) und „das Alte-Rein-Raus-Spiel“ (Vergewaltigung) praktizierend durch London und seine Umgebung ziehen. Für sie ist „Clockwork Orange“ ein Freiheitsmanifest. Und das stimmt, denn der Kernsatz von „Clockwork Orange“ ist derjenige, den ausgerechnet der Gefängniskaplan (bei Kubrick Charakterdarsteller Godfrey Quigley) zum inhaftierten Alex, der an der Ludovico-Therapie teilnehmen will, spricht: „Wenn ein Mensch nicht wählen kann, hört er auf Mensch zu sein.“ Malcolm McDowells schauspielerische Leistung in „Clockwork Orange“ ist nicht nur für sie „bahnbrechend“. Im Gegensatz zum Roman ist Alex allerdings hier ein 27-jähriger Mann. Kubricks mit vielen Zeitraffer-Sequenzen wie bei einem Buster-Keaton- oder Charlie-Chaplin-Film gedrehte, äußerst stilisierte Version sei „glamourös, sexy, charismatisch“, aber nicht im Sinn von Burgess.

Beklemmend aktuell wird die Doku, wenn sie über die „Heilung von Jugendkriminalität“ hinausgeht und Stellung zur von Iwan Petrowitsch Pawlov im Osten beziehungsweise B.F. Skinner im Westen angewandte Aversionstherapie mit der Konditionierung von Versuchstieren (und Menschen) bezieht. So wird der Künstler Ai Weiwei, selbst ein großer „Clockwork Orange“-Fan, interviewt. Er war während der Proteste in China von April bis Juni 2011 inhaftiert und man versuchte von staatlicher Seite, ihm einer Gehirnwäsche zu unterziehen: „Es ging hier nicht um Punks, sondern jeden in China, der anderer Meinung als die Regierung war“. Er habe sich in den 81 Tagen seiner Haft als „menschliches Versuchstier“ gefühlt. Big Brother und George Orwells „1984“ sind in der „schönen neuen Welt“, die Aldous Huxley, aber auch Anthony Burgess visionär skizzierten, erschreckend nah.

„Clockwork Orange – Im Räderwerk der Gewalt“: Glamourös, charismatisch und ein Freiheitsmanifest (3)

Burgess‘ Frau Lynne Isherwood wurde leider selbst ein Opfer von Gewalt, wie es ihr Mann anhand des Schicksals der von Alex und seinen Droogs vergewaltigten Frau des „A Clockwork Orange“- Schriftstellers F. Alexander schildert: Während der auf Gibraltar im Zweiten Weltkrieg stationierte Autor und Komponist in Spanien verhaftet wurde, weil er Franco beleidigt hatte, erlitt die in England zurückgebliebene Gattin eine Fehlgeburt nach einem Überfall durch vier desertierte US-Soldaten während der Verdunkelung anlässlich des Luftschutzes, bei dem sie vergewaltigt wurde. In der Doku wird darüber spekuliert, dass Burgess‘ im Mutterleib gestorbener Sohn 1962 bei Erscheinen seines berühmtesten Romans 18 Jahre alt gewesen wäre – so alt wie Alex am Ende der Erzählung. War es etwa seine Verarbeitung des Ödipus-Komplexes?

Kubrick-Familie kommt bei „Clockwork Orange – Im Räderwerk der Gewalt“ nicht zu Wort

Burgess ließ übrigens seinen Lektoren im Vereinigten Königreich und in den USA die Wahl, ob sie das 21. Kapitel veröffentlichen oder nicht. Ein in der Literaturgeschichte einmaliger Fall! Der US-Lektor entschied sich dagegen und so endet der Roman dort wie bei Kubrick. Nach einem Selbstmordversuch mit Sturz auf dem Kopf und einigen „Test-Reihen“ ist Alex nach seinem Krankenhaus-Aufenthalt ganz der Alte, also böse: „Ich war wieder geheilt!“ In Großbritannien trifft er einem„Mesto“ (Café) einen alten Weggefährten mit seiner Frau und sinnt darüber nach, erwachsen zu werden („Jungsein ist so, als wäre man eine von diesen malenkigen Maschinen.“) und selbst eine Familie zu gründen: „Amen und all der Scheiß.“ Im 21. Kapitel sieht Alex also ein, dass es so in seinem Leben nicht weitergehen kann, und findet ohne äußeren Einfluss den rechten Weg; das wurde in den USA als „zu britisch“ bewertet, und man wollte bewusst ein pessimistischeres Ende. Burgess, von dem viele Archivaufnahmen eingespielt werden, schrieb dazu: „Mein Buch entspricht Kennedy’schen Ansichten und akzeptierte die Idee eines moralischen Fortschritts. Was man wirklich wollte, war ein Buch passend zu Nixon ohne einen Funken Optimismus.“

„Clockwork Orange – Im Räderwerk der Gewalt“, Arte-Mediathek (verfügbar bis 12. Mai 2024)

Merkwürdig, dass Arte den Beitrag ausstrahlte, ohne begleitend den Film zu zeigen. Die deutsche Übersetzung des Romans von Wolfgang Krege für Klett-Cotta aus dem Jahr 1993, die im Off verwendet wird, kann mit der Erstübersetzung von Walter Brumm für den Heyne Verlag (1972) nicht mithalten. So wird aus Alex‘ Droog Dim ein „Doofie“… Kritisch bei „Clockwork Orange – Im Räderwerk der Gewalt“ ist ferner anzumerken, dass weder Stanley Kubrick zitiert wird, noch die Kubrick-Familie zu Wort kommt. Von seiner deutschen Frau Christiane stammen zahlreiche Skulpturen, Gemälde und auch die Wandzeichnungen, die im Hochhaus, in dem Alex mit seiner „M“ und seinem „P“ (seinen Eltern) wohnt, die Wände „verzieren“. Ihr Bruder Jan Harlan, bei „Clockwork Orange“ Produktionsassistent und bis „Eyes Wide Shut“ dann Ausführender Produzent aller darauffolgenden Arbeiten von Stanley Kubrick, verteidigte im Gespräch mit mir bei allen eigenen Elementen die Werktreue Kubricks: „Der Film folgt der Vorgabe des Romans zum Teil Wort für Wort. Gleich am Anfang hören wir Alex sagen: ‚There is me, Alex and my three droogs…‘ – genau wie im Buch.“ 1974 widmete Burgess auch seinen Roman „Napoleon Symphony“ Stanley Kubrick. Der wiederum wollte bereits Ende der 1960er Jahre das Leben Bonapartes zuerst mit Oskar Werner in der Titelrolle, dann mit David Hemmings oder Jack Nicholson verfilmen. Parallel zu Ridley Scotts jetzt im Kino startendem Epos mit Joaquin Phoenix, soll bald die von Steven Spielberg produzierte HBO-Serie unter Berücksichtigung von Stanley Kubricks Drehbuch zu sehen sein. Doch das ist eine Geschichte, die ein anderes Mal erzählt werden soll. (Marc Hairapetian)

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